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aufgesammelt MuseumPasseier aufgesammelt MuseumPasseier

147 Nägel und ein Brett

Wissenswertes über ein längst vergessenes Gerät.

Wissenswertes über ein längst vergessenes Gerät.

Von Annelies Gufler


Das Museum ist doch in Winterpause, oder etwa nicht? Winterpause ja, Winterschlaf nein. Hinter den Museumsmauern wird weiterhin fleißig gearbeitet. Aber was? Die Museumsobjekte werden inventarisiert. Denn auch hier muss Ordnung herrschen. Jedes Teil wird hervorgekramt, vermessen, gewogen und genau unter die Lupe genommen. Eines davon ist die Hachl.

 
Hachl. Ein Werkzeug bestehend aus einem geschweiften Brett aus Hartholz mit mittig rund angeordneten spitzen Eisennägeln, die zusätzlich durch einen Eisenring verstärkt sind. Es dient dem Reinigen der gebrochenen Flachsfasern.
 

lese ich als Objektbeschreibung in den Museumsunterlagen.

Soweit so gut, aber was macht man mit einer Hachl? Ich selbst habe bis dato keinerlei Erfahrung mit diesem Gerät, außer dass man sich mit den spitzen Eisennägeln hervorragend stechen kann. Daher werfe ich die Suchmaschine an und das Abenteuer Recherche kann beginnen!

Der Flachs, der Lein, der Hoor, die Hechel, das Werg, der Hechler, der Hechelkrämer usw. All diese Begriffe und noch viele mehr spuckt die Suchmaschine aus. Ganz schön viel Unbekanntes auf einmal, aber der Reihe nach.

Was hat die Hachl mit Haaren zu tun? Der Flachs wird auf psairerisch der Flåx oder auch der Hoor genannt. Flachs ist eine einjährige Krautpflanze, die zwischen 60 cm und 100 cm hoch wird. Die Blüte besteht aus fünf lanzenförmigen blauen Blättern. Die Aussaat soll am 100sten Tag des Jahres erfolgen, die Ernte ca. drei Monate später. Wichtig ist, dass der Flachs sorgsam gejätet wird. Zu Dreikönig sollte der Flachs fertig gesponnen sein. Flachs wird im Allgemeinen in Verbindung mit Haar gebracht, z.B. flachsblondes Haar, daher kommt wohl auch der Dialektbegriff der Hoor.

Flachsblüte im Acker des MuseumPasseier, Aufnahme von 2012. Foto: MuseumPasseier

Der Flachsanbau in Passeier geht bereits Anfang des 20. Jahrhunderts stark zurück. In alten Zeitungen finde ich, dass um 1888 auf dem Katharinamarkt in Meran noch mit Flachs gehandelt worden ist. Zwei Säcke Flachs hatten damals ungefähr den gleichen Wert wie 1kg Fleisch. Die Hachl gibt es heute noch auf den Höfen, haben mir Passeirer*innen älterer Generation erzählt. Dass Flachs angebaut bzw. verarbeitet wurde, haben sie selbst nie erlebt. Unter den Objekten bezüglich Flachsverarbeitung finden sich im MuseumPasseier eine Hachl aus Hinterpasseier und eine vom Kammerveithof in St. Leonhard. Warum der Flachsanbau bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Passeier endete, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

Die zwei Hachlin im MuseumPasseier aus dem 18. Jahrhundert.
Foto 1-3: Die Hachl aus Hinterpasseier. Länge 57 cm. Breite: 17,3 cm. Eisennägel Höhe 7,7 cm. Eisenring Umfang 51 cm. Gewicht: 2537 g.
Foto 4-6: Die Hachl vom Kammerveithof in St. Leonhard in Passeier. Länge 64 cm. Breite 18 cm. Eisennägel Höhe 6,7 cm. Eisenring Umfang 53,4 cm. Gewicht: 2088 g.

Auch wenn im 20. Jahrhundert kein Flachs in Passeier angebaut wurde, gebraucht hat man ihn dennoch notwendig. Das gesponnene Garn wurde dazu verwendet, um Leinenstoffe, Loden, Seile, Teppiche und Fackeln herzustellen. Aus dem gewebten Leinenstoff entstanden harbine Pfoatn, Blusen, Leinwände, Tischdecken… Der Flachs hat den Vorteil, dass er wesentlich strapazierfähiger ist als Wolle. Zudem bilden die hohlen Fasern eine Isolationsschicht, die kühlend im Sommer und wärmend im Winter ist.

Er ist ein „Mädchen für Alles“. So wird in einer Dokumentation des Ötztaler Museum der Lainsoom (enthaltene Samen in den Kapseln der Flachspflanze) bezeichnet, da er eine besondere Bedeutung in der Volksmedizin und in der Naturheilkunde hatte.

Das Ötztal als Flachslieferant für Passeier. Bereits der einst reichste Passeirer Michael Hofer handelte mit Flachs aus dem Ötztal. Flachshändler teils einzeln, teils zu Gesellschaften vereint, kauften früher den Flachs und lieferten ihn über die Berge.

Wie kam man zu einer harbinen Pfoate? Dafür war ein langer Aufbereitungsweg notwendig.

  • Raufen – Ausreißen der Pflanze mit der Wurzel, wobei jeweils eine Handvoll zu einer Garbe gebunden wird.

  • Riffeln – der Flachs wird durch einen Riffel gezogen, um die Samenkapseln zu entfernen.

  • Reaßn – die Garben werden auf eine frisch gemähte Wiese gelegt, Wind und Wetter ausgesetzt, mehrmals umgedreht und mit Wasser benetzt. Dadurch tritt ein Fäulnisprozess ein und die Flachsfaser löst sich vom Stängel.

  • Trocknen – dafür werden die Garben geggårggert, bis sie ein silbernes Aussehen erhalten.

  • Prächlin – hierbei kommt die Prächl zum Einsatz. Mit diesem Gerät werden die Holzteile des Stängels gebrochen und die Flachsfaser kommt zum Vorschein.

  • Schwingen – der Flachs wird auf einen Schwingstock gelegt und mit einem Schwingmesser werden die groben Holzteile entfernt.

Die Schritte der Flachsverarbeitung. Ein Video der Südtiroler Bäuerinnen-Organisation von 2018. Quelle: YouTube.

Hecheln siebter und letzter Schritt – der Flachs wird bündelweise mehrmals nacheinander durch die Hachl gezogen. Zuerst durch eine grobe, dann durch eine feinere. Dann sind die Flachsfasern gereinigt, geglättet und vom Stängel getrennt. Den dabei entstehenden Abfall nennt man Wärch. Durch das Hecheln bekommen die Fasern noch den letzten Feinschliff verpasst. Den daraus entstandenen Langfaserflachs flechtete man zu Zöpfen oder Puppen und teilte ihn in drei Kategorien: Feinstes Hoor verwendete man für Blusen und Pfoatn. Mittlere Qualität wurde zu Leintüchern und Tischdecken verarbeitet. Aus dem grob Rupfinen fertigte man Säcke, Seile, Fackeln oder Teppiche.

„Selbst gewonnen, selbst gemacht“. Nicht umsonst war ein Schrank voll gewebter Tuchballen einst der ganze Stolz einer Bäuerin. Foto: MuseumPasseier.

Das Wort Hechel leitet sich vom selben Wortstamm wie Haken ab, welche auf die zum Kämmen der Fasern angebrachten Haken bzw. Eisennägel hindeutet. Anderswo ist der Hechler oder Hechelmann auch ein Berufsname.

Die Hachl als Marterinstrument. Auch dafür wurde dieses Arbeitsgerät verwendet. Der heilige Blasius von Sebaste wurde unter anderem mit der Hechel gefoltert und hat 316 n. Chr. das Martyrium erlitten. Weniger körperlich schmerzhaft aber ebenso unangenehm ist es, wenn man von jemandem sprichwörtlich durchkhachlt wird, wie von Franz Lanthaler in seinem Artikel „Spuren der Vergangenheit in der Sprache“ beschrieben.

Mit der Hachl haben auch wir uns auf die Suche nach Spuren der Vergangenheit gemacht, längst Vergessenes wieder aufleben lassen und sind dabei selbst gar manches Mal ins Hecheln gekommen.

Sogar das Zählen war eine haarige Angelegenheit: Weit über 100 Eisenstifte besitzt eine Hachl für den Hoor. Video: MuseumPasseier

Wer hat eine Hachl daheim? Oder kennt Passeirer Geschichten zur Flachsverarbeitung?
Wir freuen uns auf einen Kommentar oder eine Nachricht!  

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zwischenbemerkt MuseumPasseier zwischenbemerkt MuseumPasseier

Eine moderne Chronik

Je mehr mitmachen, desto mehr entsteht!

© design.buero

Je mehr mitmachen, desto mehr entsteht.

Von MuseumPasseier

 

Was wäre, wenn ein Dorf eine Chronik plant, die alle Buchseiten und Gemeindegrenzen sprengt? An der nicht nur der Dorfchronist, ein Lehrer, ein Archäologe und eine Studentin arbeiten, sondern ALLE, die etwas zu erzählen oder zu zeigen haben? Wenn diese offene Chronik im digitalen Raum ständig wachsen würde, weil jede*r darin ergänzen, verbessern, verknüpfen, recherchieren, stöbern und spielen kann?

Wir freuen uns, Teil so einer Chronik zu sein, die derzeit mit Bildungsausschuss und Gemeinde St. Martin in Passeier entsteht. Wer sich dafür interessiert, kann gerne zu den offenen Chronik-Workshops in die lese.werk.statt St. Martin vorbeikommen.

 
 
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Der Wifling in der Badewanne

Von einem der auszog, um gewaschen zu werden.

Von einem der auszog, um gewaschen zu werden.

Von Judith Schwarz.
Fotos: Rita Graf

 

Möglichst nicht waschen! So lautet die Devise von Trachtenexpert*innen in punkto Wiflingkittel. Als Wifling bezeichnet man einen groben Stoff aus Schafwolle mit Kettfäden aus Leinen oder Seide. Ein Trachtenrock aus eben diesem Wifling ist ein unglaublich schweres Ungetüm aus vielen Metern Gewebe, das Frauen einst auf ihren Hüften trugen bzw. wohl mehr schleppten. Typisch für den Wiflingkittel sind die Stehfalten, die aus dem eh schon dicken und steifen Stoff ein Koloss an Kleidungsstück machen.

Daher hat man wohl ein walzenartiges Stück von einem Wesen, aber kein Weib, erklärt 1852 ausgerechnet der Priester Beda Weber seine Ansicht über die Passeirerinnen im dunklen Wollrock. Abgesehen von der mangelnden Weiblichkeit beklagt er auch die fehlende Reinlichkeit in Bezug auf Kleidung: "Der Schmutz legt sich durch unmäßig langen Gebrauch so tief hinein, daß er ganz schwarz aussieht". Wobei wir beim Thema wären.

Darf man Museumsobjekten den Schmutz der Jahrhunderte einfach abwaschen? Den Straßenstaub und Alltagsdreck, den Schweiß und Urin? Möglicherweise schwänzt man damit auch die Aura des Objekts in den Abguss? Oder, wenn nicht die Aura, dann zumindest den typischen Geruch. Da wir erste Spuren von Mottenbefall an unserem Wiiflingkiitl bemerkten, entschieden wir uns, auf Aura und Geruch zu verzichten, dafür aber den Stoff zu retten. Und so nahm Museumsmitarbeiterin Rita den “Weiberrock” für ein Wochende mit nach Hause.

Wir meinten, wir hätten einen schwarzen Kittel. Nach dem Waschen stellten wir fest, er ist rötlich-dunkelbraun. Insgesamt hat er die Behandlung mit Schmierseife und Essigwasser in Ritas Badewanne gut überstanden. Und unsere Befürchtungen zerfielen wie Mottenfraß: Das dunkle Gewebe aus Schafwolle war intakt geblieben und plötzlich wieder wollweich, der helle Innensaum hatte sich nicht verfärbt, die roten Kettfäden aus Leinen hatten gehalten. Rita ließ also erleichtert die dunkelbraune Soße, in der unser Stoffmonster geschwommen hatte, aus ihrer Wanne.

Schmutz und Geruch des Wiflingkittels schwimmen im Badewasser. © Rita Graf/MuseumPasseier

Möglichst nicht waschen! ermahnte uns einige Liter Abtropfwasser später ein Trachtenschneider aus St. Martin, den wir vor der Badewannenmission telefonisch nicht erreicht hatten. Während der vollgesaugte Wifling an sein Bad (womöglich das erste in seinem Leben) zurückdachte und gemütlich vor sich hin tröpfelte, erzählte uns Hansjörg Götsch, über den besonderen Stoff und was es mit der Kombination Wasser und Wifling auf sich hat.

Hier eine Zusammenfassung aus dem Gespräch mit Hansjörg Götsch, Jg. 1944:

Der Wiflingstoff wurde auf dem Webstuhl handgewebt. Die Kettfäden, das sind die, die endlos lang sind, die sind aus Seide. Purpurfarbene Seide. Der Schuss, das sind die Querfäden, der ist aus Wolle.

Es hat früher einen eigenen Markt für Wiflingstoff gegeben, im Ötztal glaube ich. Ich kann mich aber auch erinnern, dass mein Vater und andere Männer immer vom Wiflinghandel gesprochen haben. Wenn sie zum Haareschneiden oder Rasieren gekommen sind, habe ich das Wort oft aufgeschnappt.

Das waren die 1950er Jahre. Und das waren Männer, die selber nicht Stoff gekauft haben. Ob es zu der Zeit noch den Wiflinghandel gegeben hat, weiß ich nicht. Sie haben es wohl meist als Witz gemeint, so als Spruch. Vielleicht war es so gemeint: Wenn man auf den Wiflinghandel gehen konnte, dann hatte man Geld.

Ganz sicher hat sich nicht jede Frau einen Wiflingkittel leisten können. Das waren vor allem die angesehenen Bäuerinnen, die gut situiert gewesen sind. Auf Baumkirch in St. Martin beispielsweise hatte man zwei solche Kittel, auf Steinhaus auch. Aber ganz viele Kittel waren nicht vorhanden. Diese Wiflingkittel sind zur Zeit der Weltkriege abgekommen, als kein Wohlstand mehr war.
In den 1950er Jahren weiß ich nur mehr die Marketenderinnen, dass die einen getragen haben, wenn sie halt mit der Musikkapelle ausgerückt sind.

Dass die Frauen sich so dick ausstaffiert haben, verstehen wir heute nicht mehr. Das ist wohl vergleichbar mit den Adeligen, die früher ein besonderes Gestell hatten, damit die Frauen um die Hüfte fülliger ausschauten. Was die alles für ein Zeug anhatten! So ähnlich ist es bei unserem Miederleibchen gewesen. Das Miederleibchen hatte am unteren Ende eine richtige Wurst aus Stoff angenäht. Und daran wurde der Kittel aufgehängt. Diese Wurst war eine Art Auflage, damit der Kittel gehalten hat.

Die Männertracht und Männerkleidung hat der Schneider gemacht. Das Zeug für die Weiberleit, das haben meistens nicht die Schneider gemacht, sondern die Schneiderinnen.

Die “Nooterinnen” – das Wort haben zu unserer Jugendzeit noch alle benutzt – das waren die Schneiderinnen. Der Schneider war immer der Schneider, die Schneiderinnen waren die “Nooterinnen”. Warum man den selben Beruf bei Männern und Frauen anders genannt hat, weiß ich auch nicht. Meist gingen die Schneider und “Nooterinnen” auf die Stör. Meine Großmutter war eine “Nooterin”, sie hat es von ihrer Mutter gelernt.

Ich vermute, dass die “Nooterinnen” früher nur eine Rocklänge gemacht haben. Ob die Frauen überhaupt vorher gekommen sind zum Probieren, weiß ich nicht. Außer jemand konnte nach Maß bestellen. Man hatte wahrscheinlich nur eine Rocklänge gemacht: Bei einer großen Frau war der Rock dann halt zu kurz, bei einer kleinen Frau zu lang. Das sieht man auch auf den alten Fotos.

Bei diesem Wiflingkittel ist die Naht teilweise von Hand genäht, und zwar sehr schmal gestochen, ein Teil ist mit der Maschine gemacht. Den dicken Teil musste man von Hand nähen, früher hätte das keine Nähmaschine geschafft. Ein Teil, der unter dem Schurz versteckt ist, ist später mal geflickt worden. Alles mit Hinterstich. Man hat früher einfach viel mehr gespart mit dem Stoff. So viel wegschmeißen, wie wir heute tun, das ist früher einfach nicht gegangen. Es gibt zwei Aufhänger, eventuell hat man den Kittel einfach damit im Raum aufgehängt.

Der Wiflingkittel ist nie gewaschen worden, da bin ich mir sicher. Aber wenn er nass geworden ist, vom Regen oder so, dann haben die Falten nicht mehr richtig gehalten. Dann musste man die Falten wieder einziehen. Ich selbst habe das Falten-Einziehen nie gemacht, ich weiß halt, dass man es früher gemacht hat.

Zum Beispiel, wenn Marketenderinnen zu einem Umzug – meinetwegen aufs Oktoberfest – gefahren sind. So in den letzten 1950er Jahren und anfangs der 1960er sind sie sicherlich nach München hinaus. Die haben bei solchen Ausflügen ja nur dieses eine Gewand angehabt. Sie haben es hier angezogen, sind hinausgefahren und nach dem Umzug dann wieder herein. Oder sie haben draußen übernachtet. Wenn es vom Regen platschnass geworden ist, dann mussten sie vor dem Schlafengehen noch die Falten einziehen. Sonst hat der Kittel morgens ja ausgeschaut, so ohne Falten!

Der Faden wird mit einer Nadel quer durch die Falten eingezogen. Zuerst etwas unterhalb der Taille, dann in der Mitte und dann nochmal ganz unten am Rockende. Dann wird der Kittel gepresst und wenn die Falten dann am nächsten Tag wieder richtig halten, dann hat man den Faden wieder rausgezogen.

 

Ergänzung vom 22. September 2022:
Unserem frisch gewaschenen Wiflingkittel wurden mittlerweile wieder Falten gemacht. Hansjörg Götsch hat sie eingezogen und wir werden uns hüten, den Kittel nochmal in die Nähe von Wasser zu lassen. Ehemalige Marketenderinnen aus Passeier, die noch Wifling-Trachtenröcke getragen haben, haben wir bis dato keine gefunden.

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